Behandlung ohne Hindernis

von Clotilde Buhler | 3. Oktober 2022


Im Kanton Jura gab es 2021 59% mehr Dolmetschanfragen im Gesundheitsbereich 2021.

"Das geht wahrscheinlich auf unser Konto", bestätigt Mauranne Laurent, Psychologin und Koordinatorin in der Maison de santé communautaire (MdSC) in Delsberg. Weit geöffnete Türe, Rampe für Personen mit eingeschränkter Mobilität, gratis Tee und Kaffee, Kinderbücher, diskrete Empfangstheke – der Zugang zum MdSC im Stadtzentrum von Delsberg ist einfach. Erst Kontakte knüpfen, dann behandeln – diese Botschaft kommt an. Die erste Etage unterscheidet nichts von einer "klassischen" Arztpraxis, auch was die Diskretion angeht. "Wir sind ans Arztgeheimnis gebunden. Ohne das Einverständnis der betroffenen Person wird keine Information weitergeben, auch nicht an AJAM*", betont Koordinatorin Mauranne Laurent. Dieser Hinweis ist wichtig, weil die neue Einrichtung 2020 von AJAM ins Leben gerufen wurde. Ihr Team besteht derzeit aus fünf Pflegefachfrauen, einer Psychologin, zwei Praxisassistentinnen sowie einem Arzt und einer leitenden Ärztin. Sie alle haben Erfahrung mit der Verdolmetschung. "Der Einsatz professioneller Dolmetscherinnen und Dolmetscher ist für uns selbstverständlich."

An erster Stelle

Die MdSC verschafft Zugang zur Gesundheitsversorgung: Sie nimmt Gesundheitschecks vor (physisch und psychisch), meldet Patientinnen und Patienten fast systematisch bei einer Hausärztin oder einem Kinderarzt an und überweist sie an das kantonale Gesundheitsnetz, indem ein Termin mit Dolmetscher/in vereinbart wird. "Die meisten Anfragen betreffen die psychische Gesundheit", erläutert Mauranne Laurent. Zwischen Terminen bei anderen Gesundheitsdienstleistenden ist auch eine Übergangsbetreuung gewährleistet. "Wir kommen als Erste zum Einsatz und sorgen dafür, dass Erkrankungen später besser behandelt werden können. Die Koordination der Behandlung mit medizinischen und sozialen Akteuren ist fester Bestandteil unserer Leistungen. Solche Sprechstunden und die Nachsorge gehören nicht zur Aufgabe des Spitals". Je nach Bedarf entwickelt die neue Einrichtung auch Projekte, wie die Koordinatorin erklärt. "Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul haben wir vier Monate lang eine Gesprächsgruppe für Personen aus Afghanistan mit psychischen Problemen angeboten".

Zugang zu ambulanter Versorgung

"Die Eröffnung von MdSC hat sich direkt auf die Zahl der fremdsprachigen Personen ausgewirkt, die zu uns kommen", berichtet Nicole Mangeat, die Leiterin von Addiction Jura am Standort Delsberg, das im Bereich Prävention, Beratung und Schadensminderung tätig ist. "Ich vermute, dass diese Menschen unsere Institution nicht kannten und nicht wussten, dass sie Anspruch auf unsere Leistungen haben". Zudem gelingt die Unterstützung nur bei Personen, die sich schon erste Gedanken zu ihrer Sucht gemacht haben. "MdSC leistet eine sehr gute Grundversorgung. Die Personen, die sie uns überweisen, sind Asylsuchende", betont sie. Bisher war die Verdolmetschung bei ihnen mit 1–2 Fällen pro Jahr nicht wirklich ein Thema. "Die grosse Veränderung liegt in der Zahl der Anfragen. Das ist aus Sicht der öffentlichen Gesundheit sehr positiv, denn so können grössere Probleme wegen fehlender Behandlung verhindert werden", zeigt sich die Leiterin des Standorts Delsberg überzeugt.

Entscheid für die Verdolmetschung

Die Arbeit mit Dolmetschenden ist jedoch keine Kleinigkeit. "Wir denken über eine Schulung für Beratungsgespräche mit Dolmetschenden nach", erklärt Nicole Mangeat. Der Dolmetschdienst "Verständigung für alle" organisiert regelmässig einen Austausch zwischen Fachpersonen und Dolmetschenden, damit sich diese weiterbilden und ihre Zusammenarbeit optimieren können.

Die Notwendigkeit der Verdolmetschung hängt auch von der Art des Gesprächs ab. Das Spital Jura stellt seinen Mitarbeitenden einen Algorithmus zur Verfügung, mit dem sie diese Frage bei fremdsprachigen Patienten klären können. Das Spital verfügt über verschiedene Ressourcen ("Verständigung für alle", interne Dolmetscherliste mit geschulten Freiwilligen, Sprachtools (Bildwörterbuch, Traducmed usw.) und unterscheidet in einer Richtlinie und einer Charta namentlich zwischen nicht medizinischen Gesprächen, Notfällen und Arztgesprächen.

Bewusste Investition

Ob Kinderärztin, Augenarzt oder Hausärztin, die Dolmetschkosten der ambulanten Erstbehandlungen, die von MdSC organisiert werden, übernimmt AJAM. Bei längeren Behandlungen müssen je nach Budgetkapazität die Gesundheitsdienstleistenden einspringen. Die Frage der Finanzierung bleibt bei der Verdolmetschung im Gesundheitsbereich zentral (s. Kasten). Das Spital Jura hat im Jahr 2021 die Kosten von 196 Dolmetscheinsätzen von "Verständigung für alle" übernommen. Bei MdSC werden monatlich rund hundert Arzttermine mit Dolmetschenden organisiert. Die entsprechenden Kosten werden gemäss Pierluigi Fedele, Direktor von AJAM, in Kauf genommen. "Unser Dolmetsch-Budget ist in den letzten drei Jahren um Fr. 100 000.– gestiegen. Die Verdolmetschung ist eine bewusste Investition zur Steigerung der Qualität. Wir sind überzeugt, dass die Verdolmetschung Migrantinnen und Migranten dabei hilft, Gesundheitsfragen besser zu verstehen, und dass dies auf dem Weg zur Selbständigkeit zentral ist." (cb)

ENCADRE Fehlende Vereinbarungen

Lena Emch-Fassnacht, die Generalsekretärin von INTERPRET (www.inter-pret.ch), bemerkt: "Der Bundesrat, das BAG (Bundesamt für Gesundheit) und die GDK (Schweizerische Konferenz der Gesundheitsdirektoren) haben theoretisch anerkannt, dass die Verdolmetschung zur medizinischen Leistung gehört und die Dolmetschkosten von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen werden müssen. Bei stationären Behandlungen müssten die Dolmetschkosten über die Fallpauschalen abgerechnet werden, was bisher nicht geschieht. Deshalb übernehmen die Spitäler die Dolmetschkosten weiterhin selbst. Bei ambulanten Behandlungen müssten die Dolmetschkosten über entsprechende Tarifpositionen verrechnet werden können. In der Praxis gibt es für jedoch keine Behandlung eine Vereinbarung zwischen den Tarifpartnern."

*Association jurassienne d’accueil des migrants (Jurassische Beratungsstelle für Migranten)



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